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In den vergangenen 10 Jahren ist es Forschern gelungen, menschliche Miniatur-Organe im Labor zu züchten und auf einem Multi-Organ-Chip einen menschlichen Körper mit Blutkreislauf zu simulieren. Diese revolutionären Erfolge haben das Potenzial, ein Ende der Tierversuchs-Ära einzuläuten.
Baumeister des Körpers: Stammzellen
Tierversuche sind nicht nur ethisch verwerflich, sondern die Forschungsergebnisse wissenschaftlich unzuverlässig. Die Unterschiede zwischen Tier und Mensch sind so groß, dass tierexperimentelle Daten nicht auf den Menschen übertragbar sind. Doch welche humanbasierten Forschungsmethoden können Forscher nutzen, um bei ihren Experimenten valide Daten zu erhalten? Humane Zellkulturen waren lange Zeit die Methode der Wahl, wenn es um In-vitro-Versuche ging. Allerdings sind solche Zelllinien relativ simple und künstliche Modellsysteme, die bei komplexen Fragestellungen schnell an ihre Grenzen stoßen. Erstens werden sie häufig nicht aus gesunden Geweben, sondern aus Tumoren gewonnen, und zweitens enthalten sie nur einen Zelltyp. Die Organe in unserem Körper bestehen allerdings aus mehreren hochspezialisierten Zellarten. All die spezialisierten Zellen werden von Stammzellen gebildet, die jedes Organ besitzt. Die spezialisierten Zellen sterben nach einiger Zeit ab, und die Stammzellen bilden kontinuierlich neue spezialisierte Zellen nach. So wird jedes Organ im Körper ein Leben lang erneuert.
Vom Organ zum Organoid
Die moderne Forschung macht sich die Kraft der Stammzellen zunutze, um Miniatur-Organe im Labor zu züchten - sie werden Organoide genannt. Seit knapp 10 Jahren werden humane Organoide weltweit als In-vitro-Modell für diverse Forschungsfelder und Anwendungsgebiete genutzt. Wie bei gewöhnlichen Zellkulturen erforscht man an den Organoiden molekulare Vorgänge in Zellen, Ursachen von Krankheiten sowie die Wirksamkeit von Medikamenten oder die Toxizität bestimmter Substanzen. Organoide sind ein revolutionäres Modellsystem, da sie, im Gegensatz zu den oben beschriebenen Zelllinien, die verschiedenen Zellsubtypen des Ursprungsorgans enthalten. Auch die räumliche Anordnung der Zellen und die dreidimensionale Struktur des Organoids ähneln dem echten Organ. Außerdem können Organoide aus gesunden Geweben eines menschlichen Spenders hergestellt werden. Hierzu entnimmt man einem Menschen eine kleine Organ-Biopsie, die auch die Stammzellen enthält. Die Stammzellen werden aus der Biopsie isoliert, in manchen Fällen wird auch das ganze Organ-Stückchen verwendet. Die Stammzellen werden auf einer Zellkulturplatte in eine Gelmatrix eingebettet. Sie werden mit einem speziellen Nährmedium überschichtet, das verschiedene Stoffe enthält, die die Zellen benötigen, um zu wachsen und sich außerhalb des Körpers zu einem Mini-Organ zu entwickeln. Dieses ist so klein, dass man es mit bloßem Auge kaum erkennen kann, doch im Aufbau ähnelt es dem „richtigen“ Organ.
Das Organoide weiterhin ihre Stammzellen enthalten und sogar kontinuierlich neue Stammzellen bilden, ist es möglich, die Mini-Organe im Labor zu vermehren. Das ist essenziell, um eine hohe Zahl an Experimenten durchführen zu können und um Versuche zu reproduzieren. Mittlerweile gibt es riesige „Biobanken“ von Mini-Organen, also Lagerstätten, wo man Organoide von verschiedenen Spendern - gesunden wie erkrankten - im gefrorenen Zustand für weitere Anwendungen aufbewahrt.
Organoide für personalisierte Medizin
Es gibt einen alternativen, nicht-invasiven Ansatz, um Organoide zu züchten, bei dem keine Organ-Biopsien benötigt werden und der für den Menschen absolut schmerzfrei ist. Die moderne Forschung macht es möglich, praktisch jede Zelle des menschlichen Körpers im Labor zu einer Stammzelle umzuwandeln. Man nennt sie dann „induzierte pluripotente Stammzelle“, kurz iPSC : eine Haut- oder Haarwurzelzelle eines Spenders durch gentechnische Verfahren im Labor zu einer iPSC umprogrammiert. Diese iPSC besitzt die Fähigkeit, jede andere spezialisierte Zelle zu bilden, so dass jedes beliebige Organoid daraus gezüchtet werden kann. Ob daraus eine Mini-Leber, ein Mini-Darm oder eine Mini-Niere entsteht, wird über die zugesetzten Stoffe im Nährmedium gesteuert. Das Organoid hat dann die ganz persönlichen Eigenschaften des menschlichen Spenders. Auf diese Weise züchtet man individualisierte Mini-Organe von Menschen. Auch genetisch bedingte Erkrankungen eines Spenders sind in den Mini-Organen konserviert.
Tumor-Organoide für individualisierte Krebstherapie
Nicht nur Organe werden im Labor im Miniaturformat gezüchtet, sondern auch Mini-Tumore aus Tumor-Biopsien von Krebspatienten. Das bietet enorme Fortschritte für die personalisierte, also auf den Patienten individuell zugeschnittene Krebstherapie. Hierzu werden die Tumor-Organoide den verschiedenen Medikamenten ausgesetzt und es wird beobachtet, welches Mittel sie am stärksten schädigt. Auf diese Weise wird die wirksamste Therapie zuverlässig ermittelt und der Patient dann gezielt damit behandelt. Diese Strategie ist in der Klinik zwar noch nicht fest verankert, allerdings gibt es bereits Biotech-Unternehmen, die solche Screenings von Tumor-Organoiden als Serviceleistung für Selbstzahler anbieten. Während unzählige Tiere in sinnlosen Tierversuchen für die Krebsforschung leiden müssen und der medizinische Durchbruch dennoch ausbleibt, ist die Organoid-basierte, individualisierte Krebstherapie eine Revolution in der Krebsmedizin.
Der menschliche Körper auf einem Chip
Zur Rechtfertigung von Tierversuchen wird häufig argumentiert, dass man bei einigen wissenschaftlichen Fragestellungen das Zusammenspiel verschiedener Organe betrachten muss. Dies sei nur in einem lebenden Gesamtorganismus möglich. Diese Aussage ist falsch, denn die Forschung an menschlichen Mini-Organen bietet auch dafür innovative Lösungen. Das Zusammenspiel menschlicher Organe im Körper wird im Labor mithilfe sogenannter Multi-Organ-Chips nachgestellt. Je nach Entwickler hat so ein Bio-Chip die Dimension einer Speicherkarte für den Fotoapparat bis zu Smartphone-Größe. Darauf sind mehrere kleine zylindrische Plastikgefäße integriert, die über winzige Kanäle miteinander verbunden sind. In den Gefäßen, die aussehen wie kleine Plastikbecher, werden verschiedene Organoide oder auch andere moderne Zellkulturmodelle gezüchtet, die über das Kanalsystem mit ihrer Nährlösung versorgt werden und miteinander kommunizieren. Auf diese Weise werden der menschliche Körper und der Blutkreislauf simuliert. Über das Kanalsystem können auch Medikamente eingeleitet werden, die jedes Mini-Organ auf dem Chip erreichen. Der Einfluss des Medikaments auf die Organe und dessen Verstoffwechselung werden getestet, indem die Organoide aus dem Chip entnommen und untersucht werden.
Der Bio-Chip kann nach einem Versuch wieder neu mit Organoiden bestückt und auf diese Weise praktisch unbegrenzt wiederverwendet werden. Mittlerweile gibt es Multi-Organ-Chips mit bis zu 10 Organen: Gehirn, Lunge, Bauchspeicheldrüse, Darm, Leber, Niere etc. Es können auch geschädigte Mini-Organe von einem bestimmten Patienten in das System integriert werden, auf diese Weise wird ein erkrankter Körper nachgebaut und es können Therapien erforscht werden. Einige große Pharmakonzerne testen und optimieren bereits die Multi-Organ-Chips für den Einsatz in ihrer Medikamenten-Entwicklung. Im Gegensatz zu Tieren, bei denen menschliche Krankheiten künstlich hervorgerufen werden, sind Multi-Organ-Chips ein fortschrittliches und zukunftsweisendes Forschungsmodell für den Menschen, das aussagekräftige und zuverlässige Ergebnisse liefert.
Dr. rer. nat. Tamara Zietek Ärzte gegen Tierversuche